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26.4.2025 – Jacques Baud im Interview durch Professor Glenn Diesen | Quelle: Screenshot YouTube

Jacques Baud, ist Experte für internationale Sicherheit und Beziehungen, vormaliger Analyst des Schweizer Strategischen Nachrichtendienstes und Autor. Glenn Diesen forscht als Professor an der Universität von Südost-Norwegen zu Schwerpunkten russischer Außenpolitik, Konservatismus und den geopolitischen und geoökonomischen Entwicklungen Eurasiens.

Oberst Baud: “Seit Beginn des Ukraine-Krieges erlebt man,
wie die europäische Aussenpolitik völlig zusammengebrochen ist!”

 Ausschnitt aus dem Interview von Professor Glenn Diesen mit Jacques Baud vom April 2025

 Glenn Diesen: Hallo, alle zusammen und herzlich willkommen! Bei mir ist heute Jacques Baud, ehemaliger Oberst und Militäranalyst der Schweizer Armee und, wie ich noch hinzufügen möchte, ein äußerst produktiver Autor, zu Gast. Es freut mich sehr, Sie wieder in der Sendung zu begrüssen!

Jacques Baud: Vielen Dank, wieder zurück in Ihrem Programm zu sein – vielen Dank dafür!

Glenn Diesen: Meiner Meinung nach ist das, was bezüglich EU-Europa als zentrale Herausforderung – insbesondere in dieser kritischen Zeit – hervorsticht, der Mangel an strategischer Ausrichtung, zumal unser strategisches Denken jahrzehntelang weitgehend an die Vereinigten Staaten ausgelagert wurde. Nachdem die Obama-Regierung die Hinwendung nach Asien verkündet hatte, wurde deutlich, dass:

  • sich die Ziele und Prioritäten der USA verschieben,
  • die Welt multipolarer wird,
  • zunehmend weniger Gemeinsamkeiten den Westen verbinden.

Ich denke, es gab schon länger die Erkenntnis, dass EU-Europa beginnen sollte, seinen eigenen Weg zu beschreiten. Doch, anstatt einer Wiederbelebung unseres strategischen Denkens, hat man viel Wunschdenken erfahren, gepaart mit einer:

  • Dämonisierung der Gegner,
  • extrem emotionalen Rhetorik.

Wie beurteilen Sie diesen historischen Moment EU-Europas:

  • Was sind unsere größten Herausforderungen?
  • Wie sollen diese Herausforderungen angegangen werden?

Jacques Baud: Ihre Frage weist mehrere Aspekte aus:

Zunächst einmal haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, dass nicht nur EU-Europa, sondern der gesamte Westen über keine Strategie verfügt!

Das sehen wir bereits bezüglich den USA: Sie haben vielleicht einige Ziele, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie über geeignete Strategien verfügen, um diese Ziele zu realisieren. Eine Strategie ist nichts anderes als ein Weg, um seine Ziele zu erreichen:

Doch, in EU-Europa fehlt es sowohl an Strategien wie an Zielen!

Dies lässt sich dadurch erklären, dass man nicht erkennen kann, wohin die EU-Europäer steuern, wie man sehr deutlich aus der Ukraine-Krise, der Situation in Palästina sowie in Bezug auf die Politik gegenüber Iran und China ersieht. Es ist nicht klar:

  • wie die EU-Europäer vorgehen wollen?
  • in welche Richtung sie steuern?

Das stellt meiner Meinung nach ein Problem dar. Eine Erklärung dafür lautet, dass man bezüglich EU-Europa nicht genau weiss, wer dort für Außenpolitik zuständig ist. Wir sehen das sehr deutlich am Beispiel der Ukraine – wer soll dafür verantwortlich sein:

  • die Europäische Union?
  • die einzelnen [EU-Mitglieds]-Länder?

Die Gespräche von Steve Witkoff, Keith Kellogg und anderen, zeigen deutlich, dass die amerikanische Seite sich nicht sicher sein kann, mit wem sie effektiv zu sprechen hätte: Soll die USA mit Macron selbst – bzw, nicht einmal mit seinem Aussenminister – oder vielleicht doch besser mit Georgia Meloni oder Friedrich Merz – doch ganz sicher nicht mit Kaja Kallas, sprechen – oder? Die Europäische Union verkündet, eine supranationale Einheit zu sein, die alle europäischen Länder vereint und u.a. auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik anstrebt. Doch, man erfährt keine Erklärung, was genau die EU erreichen möchte und wer dafür zuständig wäre? Wie sieht es um die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik aus? Das sind Themen, die in mein Fachgebiet auszeichnen:

Sicherheitspolitik basiert stets auf zwei Hauptsäulen: Das sind die Außen- und Verteidigungspolitik!

Über viele Jahrzehnte beruhte die EU-Verteidigungspolitik auf der von NATO und war die Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Dies war übrigens in EU-Dokumente hineingeschrieben, zumal das kein Geheimnis ist! So, verblieb der Europäischen Union zumindest eine der beiden Säulen, sprich mit der vermeintlichen EU-Außenpolitik:

Doch, seit Beginn des Ukraine Krieges erlebt man, wie die europäische Außenpolitik völlig zusammengebrochen ist!

Die EU hat sich ausschließlich darauf konzentriert, wie man Russland schwächen könne, doch offensichtlich übersehen, wie man die Ukraine hätte stärken sollen – trotz der Lieferungen an Waffen und Munition, was jedoch langfristig nicht zur Stärkung der Ukraine beigetragen hat:

Tatsächlich ist die Ukraine, wie man inzwischen sieht, schwächer als sie zuvor noch war, geworden!

Man erkennt, dass es der Europäischen Union niemals gelang, eine Diplomatie zu vertreten, welche nicht nur die Wirtschaft und das, was ein Staat zum Leben braucht, sondern auch dessen Stellung, wie beispeilsweise die Position der Ukraine in der Welt, gestärkt hätte. Man erlebte, wie die Ukraine in Bezug auf ihre Aussenbeziehungen zum Rest der Welt ihren Status eingebüsst hat. Die Ukraine wird vom Westen lediglich unterstützt – das ist alles – doch, für den Rest der Welt ist die Ukraine nicht mehr relevant. So, funktionieren besagte Säulen – die Verteidigungs- und Außenpolitik -faktisch nicht mehr, nachdem sie dysfunktional geworden sind!

Das hat sich mit Kaja Kallas [seit 2024 EU-Aussenbeaftragte] noch zusätzlich verschlimmert, weil sie aus einem Land kommt, dessen politische Kultur nichts anderes als Russlandfeindlichkeit manifestiert. Diese deckt alles ab – so läuft jenes Spiel! Wir sehen, dass Kallas nicht in der Lage ist, andere Themen ausser Russland anzusprechen.

Die Europäische Union, welche davon ausgeht, ein globaler Hauptakteur zu sein, was aufgrund des riesigen Marktes und der enormen industriellen Kapazität grundsätzlich zutrifft, hat es bisher nicht geschafft, ihre Rolle, Fähigkeiten und Kapazitäten vor allem auf dem internationalen Parkett stärker herauszustellen:

Ganz im Gegenteil, weil die EU sich [so sehr] auf Russland fokusiert bzw. alle Beziehungen zu Russland abgebrochen hat, hat dies zur Schwächung der Position EU-Europas beigetragen. Man beobachtet dies und stellt sich die Frage, warum das so gekommen ist? Meine Erklärung lautet:

Die EU hat nie das Ziel vorgegeben, was aus ihr werden sollte!

Im Moment gibt es nach meiner Einschätzung folgende Hauptakteure auf der Welt:

  • USA
  • China,
  • EU-Europa,
  • Russland,
  • die BRICS-Staaten, welche in der Essenz für den “Rest der Welt” stehen.

Indien zählt ggfs. auch dazu, worüber man diskutieren kann. Das wären die Hauptakteure. Wie lässt sich die Position EU-Europas innerhalb dieser Konstellation qualifizieren:

Für die USA ist es klar – sie wollen die Ersten und Größten sein!

Sie wollen so sein, wie sie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen waren und die führende Nation bleiben – das hat sich nicht geändert. Der Weg dorthin hat sich mit Donald Trump wahrscheinlich etwas verschoben, aber im Wesentlichen gilt immer noch die gleiche Richtung. Es gäbe verschiedene Begriffe, um das zu begründen, aber im Wesentlichen handelt es sich um das und lässt sich [mit dem US-Streben nach] Hegemonie bzw. [mit dem US-Streben nach] Suprematie am besten beschreiben!

China ist der größte Konkurrent, doch hat keine politischen Ambitionen in Bezug auf die Welt, aber sicherlich solche kommerzieller und handelspolitischer Natur. Deshalb hat China begonnen, sein Seidenstrassen-Netzwerk [die Belt and Road Initiative] zu entwickeln. All das hat China einen Vorsprung verschafft und geholfen, es mit dem Rest der Welt zu verbinden.

Bezüglich Russland wäre es unfair zu sagen, dass es [noch] Schwellenland sei. Vielleicht ist es ein wenig so, dass aufgrund all der Sanktionen, die gegen Russland verhängt wurden, Russland realsiert hat, dass es [wieder] zur Supermacht wurde. Auch wenn es während des Kalten Krieges eine Supermacht war, hat es diese Rolle mehr oder weniger verloren, doch kommt Inzwischen zurück und ist dabei seinen Platz wieder zurückzugewinnen.

Doch, wie verhält es sich mit der Position von EU-Europa? Ich meine, es verliert in Asien, im Nahen Osten und in Afrika an Boden – das heisst gegenüber dem Rest der Welt. EU-Europa verfolgt keine Strategie, um seine Rolle in dieser verwirrten, heutigen Welt wiederherzustellen.

EU-Europa könnte in Situationen, wie beispielsweise im Nahen Osten ein wichtige Rolle spielen: Auf der einen Seite stehen die USA und auf der anderen der Iran, sowie die Palästinenser und arabische Welt. Europa könnte zwischen diesen Seiten eine wichtige Funktion ausüben: Denn, wenn es um Diplomatie im Nahen Osten geht, blicken alle auf die USA, die jedoch zusätzlich Teil dieses Konflikts auch sind. So, kommt den USA eine Doppel-Rolle zu – sowohl die des Vermittlers wie die der Konfliktpartei – ein klein wenig, wie auch in Bezug auf die Ukraine.

Die Trump-Administration greift auf einige Tricks zurück, um ihre Rolle als Konfliktpartei in Abrede zu stellen: Sie behauptet, der Krieg falle ganz auf die Biden-Administration zurück, was inzwischen die Geschichte, nicht jedoch ihr Krieg, doch nur der von Joe Biden sei. Trump sagt, er versuche das Problem nur zu lösen! In gewisser Weise versuchen sie, so auch mit der Iran-Krise zu verfahren, obwohl diese größtenteils von Trump selbst, während seiner ersten Amtszeit angezettelt worden war und leicht vergessen wird.

Die neue Amtszeit dient den USA als Neuanfang – das versuchen sie nun voll auszuspielen: Es liefert den USA den Kontext, z.B. die Rolle eines Israel-Unterstützers und die des Vermittlers, wie auch in Bezug auf den Konflikt mit dem Iran und in gewisser Weise mit den Palästinensern, zugleich zu spielen. Wir können diese seltsame [Doppel-] Rolle der USA heute miterleben!

Daraus könnte sich meiner Meinung nach ein Lücke für eine [dritte Partei] Macht ergeben, die:

  • keine direkt-imperialistischen Ansätze gegen den Rest der Welt verfolgte,
  • die ihre imperialistischen Ansätze aufgegeben hätte,
  • ihre Rolle auf Grundlage fairer Diplomatie und fairen Handels ausüben wollte.

Doch, die Europäische Union verfolgt nicht ein solches Konzept. Sie hält sich aus solchen Fragen zu Krisen völlig heraus. Es bedeutet, dass besagte Lücke von anderen geschlossen wird!

Aus diesem Grund mag zwar Emmanuel Macron auftauchen, um mit einer vermeintlich persönlichen PR-Strategie im Mittelpunkt zu stehen – doch nicht viel mehr als das: Ihm geht es um eine persönliche Werbestrategie, denn Macron kann kaum für Frankreich, geschweige denn für Europa sprechen. Sein Auftreten gleicht mehr einer persönlichen Einzelvorstellung als echtem politischen Engagement für eine neue Rolle Frankreichs, den das Land verfügt nicht mehr über die Mittel, um eine derartige Supermachtrolle oder Großmachtstrategie auszuüben:

So ist Europa in Bezug auf Vorhandensein von Zielen und Strategien völlig verwaist!

Wir sehen niemanden, der in der Lage wäre, eine solche Rolle einzunehmen, um eine strategische Vision zu entwickeln und ihre Umsetzung voranzutreiben…

Hier fehlt etwas, wie ich meine: Europa tendiert dazu, nur taktisch, wie man es über die letzten 30 Jahren getan hat, zu operieren, weil es vermeintlich keinen Bedarf für Strategien gegeben hätte: Alles lief reibungslos, und deshalb entstand auch kein Bedürfnis nach Strategie. Doch, ich meine, EU-Europa hätte stets eine solche benötigt:

Doch, man hielt daran fest, nur taktisch – ohne strategische Visionen, strategische Absichten und strategische Wege für strategische Ziele – zu handeln!

Das spiegelt ein wenig meine Sichtweise wider. Das Problem heute, besteht darin, dass die USA strategische Ziele verfolgt, die vom neuen Präsidenten und seiner Regierung mit der Botschaft – „Make America Great Again!“ – klar formuliert wurden. Man versteht, dass sich inzwischen alles auf diese Ziele – inklusive Tarif-Fragen und was dazugehört – konzentriert. Doch, zugleich wird offensichtlich, wie chaotisch die Umsetzung dieser Ziele bzw. insbesondere der Weg dorthin verläuft:

Es geht auf und ab: Man führt Zölle ein, doch zwei Tage später rudert man wieder zurück. Das bedeutet zwei Schritte voraus und drei Schritte zurück und heist, dass es effektiv überhaupt keine Strategie gibt. Das ist – so meine ich – die heutige Schwäche des Westens! Es entsteht ein Problem, weil der Rest der Welt – das sind neben den BRICS-Staaten, wie China und Russland, noch andere Länder, die nicht zum Westen gehören, allesamt auf der Suche nach Stabilität, nämlich stabilen Handelsbeziehungen und einer stablilen Politik insgesamt sind!

Fehlende Strategie bzw. besser ausgedrückt das chaotische Management in der Situation kann bei manchen Leuten Angst erzeugen. Die einzigen stabilen Länder heute, sind vor allem China, Russland und Indien: Es sind Länder, die vor allem stabile Beziehungen untereinander pflegen, aber auch über Führungen verfügen, die weniger chaotisch, weniger taktisch, doch strategischer agieren und erst denken, bevor gehandelt würde:

Dagegen wird im Westen, noch bevor gedacht wurde, gehandelt!

Das sieht man sehr deutlich an all dem, was im Zusammenhang mit Versuchen zur Beilegung der Ukraine-Krise geschehen ist. Ich möchte behaupten:

Der Rest der Welt bringt heute mehr an Vertrauen Ländern wie China und Russland – anstatt westlichen – entgegen!

Um das Bild abzurunden: Aufgrund besagten unberechenbaren und chaotischen Verhältnissen trifft es inzwischen die Wirtschaft, welche sowohl in den USA als auch in Europa zu schwächeln beginnt und auch auf ausländische Investoren abfärbt.

Länder, wie Japan und Südkorea, die nicht direkt zum Westen gehören, aber mit dem Westen verbündet sind, zögern ihre Handelsbeziehungen mit dem Westen fortzusetzen: Es zeigen sich Tendenzen, wonach beispielsweise Japan zögert, doch sich verstärkt China zuwendet, weil China im Vergleich einen stabileren Handelspartner abgibt. Was strategischen Entscheidungen in Bezug auf Handel am meisten entgegensteht, ist “Instabilität”. Genau deshalb suchen besagte Länder Handelspartner mit Stabilität. Solche Kriterien verfolgen viele Länder auch neben BRICS, weswegen auch sie Verbindungen zu nicht-westlichen Ländern präferieren.

Darüber kommt es auch zu Drohungen: Die Politik der Administration Trump setzt eine Art von Kanonenbootdiplomatie ein, um US-Ziele durchzusetzen. Wenn ein Land US-Befehlen nicht Folge leistet, läuft es Gefahr von Militäreinsätzen bis zu Sanktionen und dergleichen eingeholt zu werden.

Mit solchen Methoden baut man keine internationalen Beziehungen auf: Doch, diese Praktiken ensprechen gängigen westlichen Gepflogenheiten:

Sanktionen sind inzwischen zum wichtigsten außenpolitischen Instrument des Westens – inklusive meines Landes, der Schweiz – im Allgemeinen geworden!

Letztes Jahr erschien in der Washington Post ein Artikel über die Wirksamkeit von Sanktionen. Darin wurden alle wichtigen Länder, die Sanktionen verhängen, aufgelistet. An erster Stelle standen die USA, aber an zweiter Stelle kam schon die Schweiz! Die Schweiz gilt als neutrales Land, doch dieses Beispiel zeigt, wie die Verantwortlichen sich heute nicht mehr strategisch, sondern taktisch leiten lassen: Denn wenn man als neutrales Land beginnt, im Zuge eines Konfliktes Sanktionen zu verhängen, wird man Teil dieses Konflikts. Doch, dadurch geht das erforderliche Vertrauen verloren, was auf dem internationalen Parkett benötigt wird, um erfolgreich zu bleiben!

[…]

***

Übersetzung des Interview-Ausschnitts: UNSER-MITTELEUROPA

Das ganze Interview auf Englisch: HIER



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Von Redaktion

2 Gedanken zu „Jacques Baud: “Europa ist bezüglich politischer Strategie und Ziele völlig verwaist!”“

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